was schief ist / halb. Die Paarbeziehung ...

<

was schief ist / halb. Die Paarbeziehung in Heiner Muellers "Umsiedlerin" dargestellt durch eine junge Berliner Schauspielgruppe unter Anleitung von Thomas Heise

Exposé zum Hörstück

Im Februar/März 2016 studiert eine junge Berliner Schauspielgruppe Heiner Müllers Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande ein (UA 1961, Müller 2000, 181-287). Das Stück handelt von Bodenreform und Industrialisierung der Landwirtschaft in einem mecklenburgischen Dorf auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone, das heißt vom Einüben einer neuen Form durch Menschen in Gewohnheit der alten.
Von den Proben gibt es Tonaufnahmen, die die Entwicklung der Inszenierung dokumentieren. Vergleichbar mit Handschriften weisen die Mitschnitte Streichungen, Korrekturen und Randnotizen auf. Wer dem Theater beim Arbeiten zuhört, bekommt was anderes vom selben Stück, als die Premiere bietet. Ein Stück in Vorstufen aufzuführen heißt, Autorisiertes mit Plausiblem anzureichern, letzte Gültigkeit ihm probeweise zu entziehen. Die Rezeptionsgeschichte der Umsiedlerin wird von Müller so beschrieben:

„Die erste offizielle Aufführung [nach dem Verbot 1961] gab es 1975 in der Volksbühne in Berlin unter der Regie von Fritz Marquardt, da war das aber eigentlich für die Leute schon eine sehr ferne Geschichte. Die Wirkung war auch ziemlich begrenzt, glaube ich. Kein Bauer aus Mecklenburg fährt nach Berlin ins Theater. In Mecklenburg gab es schon vor 1975 einen Versuch, das Stück zu inszenieren. Das wurde von der Bezirksleitung der Partei aber mit dem Argument verboten, sie möchten keine alten Wunden aufreißen. Merkwürdig war das Gastspiel mit der Volksbühnen-Inszenierung in Amsterdam. Ein Erfolg durch den Märcheneffekt. Auch später beim Gastspiel der Dresdner Inszenierung (1985) von Tragelehn [dem Regisseur der UA] in Hamburg. Die Hauptsache war dabei, daß ein Bild von einer Welt auftauchte, in der etwas anderes gedacht werden konnte als das Bestehende, der Glanz des Märchens, der Utopie. Geschildert wird eine weit zurückliegende, fast archaische Situation, in der alles in Bewegung war, alles möglich schien. Daß die Bauern in Versen reden, fällt gar nicht auf.“ (Müller 1992, 186)

Es erstaunt mich zu hören, wie sich die Schauspielgruppe den Text übers Metrum erschließt. Sie kiefelte nämlich am Stück aufgrund ihrer Nachgeburt. Abstand konnte durch Erklärung, im Versuch, sich einzufühlen, kleiner werden, jedoch wesentlich, was Mitteilung betrifft, in Konzentration aufs Metrum vergrößert. Was aufgesagt war, galt schon durch Klang und wurde, weil in guter Form begründet, als verstanden hingenommen. Eine bekannte Deutung des Textes setzt denn auch beim Blankvers an. Sie stammt von Peter Hacks und lautet:

„Wie der Umsiedlerin-Jambus immer wieder neu produziert werden muß, muß der Sozialismus immer wieder neu produziert werden; beide sind nicht selbstverständlich. Die Prosa verfremdet den Vers, die Konfrontation mit dem Kapitalismus verfremdet den Sozialismus. Beider Schönheit wird, durch Verfremdung, deutlich. […] Ich bin sicher, hier, an einem ganz neuen Beispiel, das Wesen der Kunst zu beobachten: die formale Widerspiegelung von Produktions-verhältnissen“ (Hacks 1972, 51).

Was uns die Arbeit am Stück notwendig machte, war, dass darin Politik und Intimes mit Spiel, also nicht fatalistisch, verschraubt sind. In einem Notat Müllers von 1978 steht:

„Es geht darum, dass es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man schreibt. Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche ich keinen mehr.
Dabei gibt es einen wesentlichen West-Ost-Unterschied: Ich/DDR kann über mich nicht reden, ohne über Politik/DDR zu reden. Während es in Westdeutschland ein ganz abgeschirmter Bereich ist oder sein kann. Der Intimbereich kann in der DDR nie so abgeschirmt sein. Nach wie vor ein Vorteil.“ (zit. nach: Müller 2014, 52)

Zu West-Ost-Unterschieden oder DDR/Nicht-DDR fällt mir nichts ein, gesammeltes Schweigen nach der Probe träfe besser, was mich interessiert, oder Krach, konkret, in Stellproben, Schnitzer im Text, soufflierte Passagen usw. – die ganzen Griffe, mit denen ein Text sich aneignen, ein Stück sich einrichten lässt. Vermeiden muss ich, bei Bewunderung des Handwerks nur zu bleiben. Gegebene Vorgänge sind Anlass zu Beschäftigung, nicht Ziel, ich wäre ja fertig. Vielleicht hört man ja das Stück in den Schädeln derer, die sich drin umtun, ackern.

Oktober 2016



Nachtrag vom 16. Jänner 2017


Die Güte dieses Hörspiels liegt für mich darin, dass es zu erkennen gibt, was hätte sein können. Es ist an Ihren Sinn für Möglichkeit gerichtet.


Literatur


Hacks 1972 = Hacks, Peter: Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972
Müller 1992 = Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992
Müller 2000 = Müller, Heiner: Werke 3. Die Stücke 1. Hg. von Frank Hörnigk unter Mitarbeit von Kristin Schulz, Klaus Gehre und Marit Gienke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000
Müller 2014 = Müller, Heiner: Theater ist kontrollierter Wahnsinn. Ein Reader. Hg. u. mit einem Vorwort von Detlev Schneider. Berlin: Alexander 2014


Mitwirkende

Aufnahmetechnik u. -regie…Anna Hirschmann, Georg Oberhumer, Christoph Varga
Idee, Schnitt, Produktion u. Sprecher…Georg Oberhumer
Mischung…Sebastian Watzinger

Regisseur der Inszenierung…Thomas Heise
Regieassistentin…Franziska Huhn
Allg. Assistenz…Anna Hirschmann, Georg Oberhumer, Christoph Varga
Bühnenbildnerin…Larissa Kramarek

Mitglieder der Schauspielgruppe

Tanya Erartsin…Niet
Yannick Fischer…Ketzer, Rammler, Traktorist
Lena Lauzemis…Flinte
Christopher Reinhardt…Beutler, Pastor
Teresa Schergaut…Flüchtling, Erfasser
Maike Schmidt…Herakles 2 oder Die Hydra
Gabriel Schneider…Treiber, Flint, Bauer, Mütze, H2oDH
Sebastian Witt…Fondrak